Bio-Spitzenkoch Simon Tress verwertet in seinen Gerichten alle Produkte komplett. Auch das, was bei anderen vielleicht im Müll landen würde (Fotos: Ralph Koch/Simon Tress)

Ganz oder gar nicht

Wie und warum ein Koch alle Teile von Gemüse und Tier verwertet

10.05.2021

Eine Mousse aus Schweinezunge oder eingelegte Kohlrabistiele – das klingt für die meisten Menschen gewöhnungsbedürftig. Sollte es aber nicht, findet Bio-Koch Simon Tress. In seinen Gerichten verwertet er alle Produkte komplett – vom Blatt bis zur Wurzel, von der Nase bis zum Schwanz.

Von Désirée Thorn

Für manche ist Simon ein Vorbild, andere werfen ihm vor, polarisieren zu wollen. Für Simon ist das, was er da tut, einfach normal. "Meine Familie arbeitet schon seit 71 Jahren ökologisch. Da ist doch klar, dass man den nächsten Schritt geht", sagt er. Der "nächste Schritt", das ist nicht nur der Grundsatz, alle Bio-Produkte für seine Gerichte aus einem Umkreis von maximal 25 Kilometer zu beziehen oder die Etablierung eines CO2-Menüs. Es ist eben auch der klare Anspruch, alle verwertbaren Teile von Gemüse und Tieren zu nutzen.

Simon ist selbst auf dem Bauernhof großgeworden. Und was man heute als Food-Trends namens "Nose-to-Tail" oder "Leaf-to-Root" bezeichnet, war dort eben einfach Alltag. Die Familie verwertete alles, was das jeweilige Produkt hergab – nicht nur, weil es ökologisch sinnvoller ist, sondern auch aus reiner Wirtschaftlichkeit. Aus dem klassischen Bauernhof ist inzwischen ein Bio-Unternehmen geworden. Gemeinsam betreibt die Familie Tress ein Bio-Hotel, vier Bio-Restaurants und stellt zusätzlich Fertigprodukte in Bio-Qualität her. Überall setzt sich das fort, was Simon und seine drei Brüder in ihrer Kindheit auf dem Bauernhof gelernt haben.

Zu Simon Tress und seiner Familie

Simon Tress war viel in der Welt unterwegs. In Deutschland gehört er zu den Koryphäen der Bio-Gastronomie.


Zwei Generationen prägen das traditionsreiche Familienunternehmen im baden-württembergischen Hayingen-Ehestetten: Mutter Inge Tress sowie ihre Söhne Daniel, Simon, Christian und Dominik. Zentraler Ankerpunkt ist das Stammhaus "Rose" mit gleichnamigem Bio-Hotel und -Restaurant. 2003 kam mit dem Schloss Ehrenfels eine spektakuläre Eventlocation hinzu. Seit 2006 gehört außerdem das Naturerlebnis Wimsener Höhle mit seinem historischen Gasthof Friedrichshöhle zum Familienunternehmen. Die eigene Bio-Manufaktur entstand drei Jahre später. Im Jahr 2018 wurde mit dem Gasthaus "Heimatküche" in Bechingen das dritte Restaurant der Familie eröffnet, bevor mit dem Bio-Fine-Dining-Restaurant 1950 nun sogar das weltweit erste Demeter & Bioland Fine-Dining-Restaurant an den Start ging. Mit dem CO2-Menü – diesen Begriff hat sich Familie Tress übrigens patentieren lassen – wird dort etwas ganz besonderes geboten. Der Gast erfährt sämtliche Zutaten sowie deren Herkunft. Dazu gehören auch die Angaben zum CO2-Ausstoß und die Info, wie viele Kilometer die Produkte vom Erzeuger bis ins Restaurant hinter sich gebracht haben.

Simon hat sich auch abseits des Familienunternehmens einen Namen gemacht. Er war unter anderem Teamkapitän der Jugendnationalmannschaft und Mitglied der deutschen Nationalmannschaft der Köche. Er durfte im Auftrag des Auswärtigen Amtes in verschiedenen Ländern kochen und erhielt mehrere Auszeichnungen. Zudem schrieb er bereits vier Kochbücher, darunter auch eines zum Thema "Nose-to-Tail" ("Das ganze Tier: Fleisch nachhaltig und bewusst genießen" von Simon Tress und Georg Schweisfurth).


"Nicht wir machen den Teller, sondern die Natur", sagt der Bio-Spitzenkoch. In seiner Küche landet eben nur, was gerade verfügbar ist – und das wird dann vollständig ausgekostet. So zum Beispiel bei Kohlrabi: Aus den Blättern werden Chips, die Stiele werden dünn aufgeschnitten und roh mariniert, aus der Schale stellt Simon ein geschmackintensives Pulver her, das er als besonderen Kick über die fertige Speise streuen kann, und das eigentliche Fruchtfleisch wird fermentiert. Eine Knolle – etliche Möglichkeiten.

"Entweder esse ich das ganze Tier, oder ich bin Vegetarier."

Mit diesen Möglichkeiten experimentiert Simon, sodass die regionalen Gemüse- und Obstsorten mit ihrer ganzen Vielfalt die eigentlichen Stars auf den Tellern sind. So stellt er auch das Konzept der klassischen Gemüse-Beilagen auf dem Kopf: In seinem neuesten Bio-Fine-Dining-Restaurant 1950 können die Gäste Fleisch als Beilage zum vegetarischen 5-Gänge-Menü dazu buchen. "Wir wissen das Fleisch wirklich zu schätzen. Für uns ist es eine Sache des Respekts: Entweder esse ich das ganze Tier oder ich bin Vegetarier", sagt er. 

Deshalb gibt es im 1950 auch mal Schweinskopf-Sülze oder Nierenzapfen, also den Lendenteil des Zwerchfells. Für die Gäste eine absolute Bereicherung. Dass die beliebten Edelteile wie Filet und Co. natürlich knapp sind, stört sie nicht. Prinzipiell eignen sich zur Zubereitung leckerer Gerichte neben diesen bekannten Stücken nämlich fast alle Teile des Tiers – ausgenommen Fell, Borsten, Klauen, Augenlider, innere Gehörgänge und die Einstichstelle zum Entbluten, das Stichfleisch.

 

Bei Simon Tress kommt alles auf den Teller, was die Produkte hergeben, zum Beispiel auch das Grün der Karotten.

 

 

So entstehen teils auch überraschende Kreationen.

 

 

Die Gerichte im Bio-Fine-Dining-Restarant "1950" sind grundsätzlich vegetarisch. Fleisch kann als Beilage dazubestellt werden.

 

Das Ganze erfordert ein gewisses Maß an Flexibilität. Von den Gästen, die nicht genau wissen, was ihnen im Restaurant angeboten wird. Aber natürlich auch von Simon, der quasi nimmt, was kommt und es kreativ verarbeitet. "Zu dem Konzept gehört auch ein langfristiges Verhältnis zu den Höfen, die uns beliefern. Es ist wie in einer Ehe: Beide Seiten müssen sich aufeinander verlassen können." Simon garantiert den Landwirt*innen, dass er eine bestimmte Menge abnimmt und einen fairen Preis zahlt. Umgekehrt bekommt er dafür qualitativ hochwertige Produkte exklusiv geliefert.

Oft wird gesagt, dass bio zu teuer sei – auch in der Gastronomie. Simon sieht das anders und beweist das Gegenteil. Denn der Einsatz regionaler und saisonaler Lebensmittel im Ganzen sowie der Fokus auf Gemüse statt aufs Fleisch machen sein Konzept rentabel. Er findet: " Nachhaltigkeit darf keine Bürde sein. Man muss sich selbst fordern und aufs Produkt konzentrieren." Wenn sich mehr Hobby- und Profi-Köch*innen für "Nose-to-Tail" und "Leaf-to-Root" begeistern, könnten diese nachhaltigen Geschmackserlebnisse für viele weitere Menschen zur Normalität werden.

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