Mit einem kargen Gründach hat die Test-Fläche der TH Bingen wenig zu tun. Bis zu 15 Zentimeter hoch wachsen hier die Pflanzen. (Foto: Désirée Thorn)

Klimaschutz auf dem Dach

Forscher wollen Städte grüner machen

10.08.2020

Grünkohl vom Dach? Das kann funktionieren. In einem Forschungsprojekt der Technischen Hochschule (TH) Bingen werden aus kargen Dächern blühende Gärten. Die Begrünung bietet neuen Lebensraum für Tiere, schützt vor Überschwemmungen und sieht natürlich schön aus. Aber kann sie auch das Klima schützen?

Von Désirée Thorn

Mit einem richtigen Garten haben die meisten begrünten Dächer wohl eher nichts zu tun. Aus einem grauen Kiesbett lugen ein paar Gräser und Sukkulenten. Extensive Begrünung nennt man das. In mehr als 80 Prozent der Fälle werden deutsche Dächer auf diese Weise bepflanzt. Von der Straße aus ist davon in der Regel kaum etwas zu erkennen. Und auch das Klima zeigt sich wenig beeindruckt.

Doch gerade das Klima wird in vielen Städten zum Problem. Bei bestimmten Wetterlagen ist es dort bis zu 10 Grad wärmer als in den umliegenden ländlichen Gebieten. Außerdem sorgen Verkehr und Industrie für mehr Schadstoffe in der Luft, und der versiegelte Boden kann bei Starkregen nicht genügend Wasser aufnehmen. Ganz abgesehen vom fehlenden Lebensraum für Tiere.
Aber was passiert, wenn es auf den Dächern richtig sprießt, blüht, kreucht und fleucht? Kann das zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel beitragen? Das will ein interdisziplinäres Forschungsteam der TH Bingen herausfinden.

 

Regenwasser wird in großen Behältern gesammelt (rechts im Bild). Eine mit Solarstrom betriebene Pumpe befördert das Wasser dann aufs Dach (Foto: Désirée Thorn)

 

 

Die Forscher testen zwei unterschiedliche Arten der Bewässerung. Auf der rechten Seite liegen die Wasserschläuche über der Erde, auf der linken Seite sind sie in den Boden eingelassen (Foto: Désirée Thorn)

 

 

Mithilfe von Messgeräten wird das Klima ständig kontrolliert (Foto: Désirée Thorn)

 

Direkt neben dem Campus wachsen nun Lavendel und Scharfgabe neben Erdbeeren und Wirsing in einem Meter Höhe. 100 Quadratmeter groß ist die Demonstrations-Anlage. Zuvor hatten die Forscher bereits bepflanzte Garagendächer der TH untersucht und mit normalen Kiesdächern verglichen. Dort konnten sie zwar Auswirkungen auf die Biodiversität und den Wasserrückhalt ausmachen, eindeutige klimatische Unterschiede stellten sie aber nicht fest. Dazu musste die größere Anlage her.
Obwohl sich die Test-Fläche eher auf Höhe eines Hochbeets befindet, sieht sie aus wie ein echtes Flachdach. Mineralischer Boden bedeckt die Folien auf dem Holzkonstrukt. Ton und saugfähige Steinsorten sollen das Wasser bestmöglich speichern. In großen Behältern wird Regenwasser gesammelt, das dann von einer Pumpe durch perforierte Wasserschläuche befördert wird.
Auf einer Hälfte der Anlage verlaufen die Schläuche unterirdisch. Auf der anderen liegen sie auf dem Boden auf. "Damit kann man sein Dach auch einfach nachrüsten", erklärt Oleg Panferov, Professor für Klimawandel und Klimaschutz. Sensoren im Boden melden, wenn es zu trocken wird. Dann wird wieder bewässert. Circa 40 Minuten täglich läuft die Pumpe im Durchschnitt. Ein Quadratmeter Fläche benötigt rund zwei Liter Wasser am Tag.

Noch mehr grün in der Stadt

Mehrere Prototypen zeigen, wie die mobilen vertikalen Gärten aussehen können (Foto: Benjamin Warnecke)


Mehr grün will die TH Bingen auch noch mit einem weiteren Projekt in die Städte bringen. Gemeinsam mit Projektpartnern entwickeln die Forscher mobile vertikale Pflanzeninseln, die eine fünf- bis achtfach größere Grünoberfläche als Pflanzkübel oder Hochbeete aufweisen. Dabei wurde vor allem auf Aspekte wie Mobilität, Windanfälligkeit, Verwendung von Regenwasser und ressourcenschonende Materialien geachtet. Die Wasser- und Energieversorgung läuft autark. So sind die Pflanzeninseln nicht nur gut für Luft, Insekten und Vögel, sondern bieten auch einen Schallschutz – oder eine Corona-Barriere. Seit dem 28. Mai steht der erste mobile vertikale Garten in Bingen. Weitere wurden in Neustadt an der Weinstraße, Ludwigshafen und in der Binger Hochschule aufgestellt. Ab 2022 wollen die Verantwortlichen in die Serienproduktion gehen.


Betrieben wird die Pumpe mit Solarenergie. Ein Modul ist direkt an der Anlage angebracht. "Die benötigte Energie ist aber fast zu vernachlässigen", sagt Jan Wustmann, Projektingenieur für erneuerbare Energiewirtschaft. Generell ist die Test-Anlage zu den Forschungszwecken wesentlich üppiger ausgestattet, als es im Alltag nötig wäre. "Wir übertreiben", erklärt Panferov. Normalerweise sei ein ähnlich gestaltetes Dach nicht teurer als ein vergleichbares Ziegel- oder Kiesdach.

"Das Wasser ist entscheidend. Wir wollen wissen: Wie stark muss man bewässern, um Klimaanpassungseffekte zu haben?", erklärt Elke Hietel. Die Professorin für Landschaftspflege sowie Landschafts- und Stadtplanung untersucht die Auswirkungen auf die Biodiversität und ist federführend für die Auswahl der Pflanzen zuständig.
Auf der Test-Anlage findet man ausschließlich Pflanzen, die bis zu 15 Zentimeter hochwachsen. "Semi-intensiv" nennt man diese Form der Begrünung. Eine wirklich intensive Begrünung würde zwar für einen besseren Klimaausgleich sorgen, sie wäre aber auch aufwendiger zu pflegen und vor allem extrem teuer. Je höher die Pflanzen wachsen, desto dicker müsste auch der Boden sein. Auf Dächern sorgt das für Probleme.

 

Das Forscherteam arbeitet interdisziplinär. Jan Wustmann (links) und Benjamin Warnecke (rechts) überwachen die Anlage als Projektmitarbeiter. Professorin Elke Hietel und Professor Oleg Panferov betreuen das Projekt mit zwei weiteren Kollegen

 

 

Die TH Bingen untersucht noch weitere Testflächen wie hier auf dem Heilig-Geist-Hospital in Bingen (Foto: Benjamin Warnecke)

 

 

Und auf auch einem Dach der Uni Mainz wird begrünt und gemessen (Foto: Benjamin Warnecke)

 

Ob sich die semi-intensive Begrünung auch positiv aufs Stadtklima auswirken kann, müssen die Verantwortlichen noch erforschen. Minütlich senden die auf dem Test-Dach aufgestellten Klima-Messgeräte Daten. In anderen Bereichen sind die Forscher hingegen schon weiter – auch aus vorherigen Projekten. So kann die saugfähige Dachoberfläche etwa bei Starkregenereignissen helfen. Und auch auf die Biodiversität hat die Dachbegrünung große Auswirkungen. Auf dem Dach des Binger Heilig-Geist-Hospitals – auch eine Test-Fläche der TH - leben inzwischen sogar viele Ameisen.

Angst vor Schädlingen müssen potenzielle Dachbegrüner nicht haben. Mit ihnen siedeln sich auch Nützlinge an – so sei für ein natürliches Gleichgewicht gesorgt. Auch Bedenken um einen Wasserschaden seien unbegründet. Die eingesetzten Folien sind gut getestet und halten das Dach trotz der Bepflanzung zuverlässig dicht. Ein grüner Daumen wird auch nicht vorausgesetzt. Die Begrünung braucht kaum Pflege, ab und an muss man die Pflanzen höchstens etwas kürzen.
Dennoch entscheiden sich derzeit recht wenige Menschen für eine intensivere Dachbegrünung. Elke Hietel sieht dabei die Kommunen in der Pflicht: "Wenn es mehr Begrünung auf öffentlichen Gebäuden gäbe, würden sich die Leute das auch eher abschauen." 

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